Lesetipp: Der Tätowierer von Auschwitz

Die “Corona-Krise” ist allgegenwärtig. Minütlich werden Infektionszahlen und Todesraten aktualisiert, Klopapier gehamstert, Corona-Partys aufgelöst, ein Alltag zwischen Kinderbetreuung und Home Office versucht – aber auch Hilfsangebote angeboten und aus der Not Tugenden gemacht. Die Gesellschaft ist dabei, sich neu zu finden.

Es ist vielleicht eine ungewöhnliche Zeit dafür und doch gibt es keine unpassenden Momente, sich zu vergegenwärtigen, dass unsere Eltern- und Großelterngenerationen Zeiten erlebten, mit denen verglichen die Corona-Krise (zumindest heute und in unseren Breitengraden) als Luxusproblem erscheint.

Wir haben zu genug zu essen und zumindest die meisten ein Dach über dem Kopf. Regierungen versuchen Gesellschaft und Wirtschaft zu unterstützen und subventionieren, um der Krise Einhalt zu gebieten. Wie erfolgreich die Maßnahmen sein werden, wird sich zeigen. Aber es gab eben Zeiten, in denen große Teile der Gesellschaft verfolgt, ausgehungert, eingesperrt und vernichtet wurden. Zeiten, in denen viele schon froh waren, wenn sie morgens aufwachten und am Leben waren.

Ein solcher Zeitgenosse war Lale Sokolov, ein slowakischer Jude, der im April 1942 nach Auschwitz deportiert wurde und dessen Lebensgeschichte die Australierin Heather Morris in ihrem Buch “Der Tätowierer von Auschwitz” niedergeschrieben hat.

Als jüdische Familien angewiesen wurden, ein Familienmitglied als Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, hat sich Lale bereitwillig gemeldet, um seine Familie in Sicherheit zu wissen. Nach tagelanger Ungewissheit erreichte er in einem Viehwaggon schließlich das Konzentrationslager Auschwitz.

Dem Tod von der Schippe gesprungen, weil Mithäftlinge seinen fleckfiebergebeutelten Körper von der “Schwarzen Marie” ins Leben zurückholten, ihn schützten und pflegten, half er fortan dem Tätowierer von Auschwitz bei seiner täglichen schmerzhaften Kennzeichnung der Neuankömmlinge – bis dieser verschwand, und Lale selbst der Tätowierer von Auschwitz wurde.

Was er dann erlebte, ist für uns Nachgeborene schwer nachzuvollziehen. Jeden Tag war er vom Tod umgeben und froh, selbst Folter überstanden zu haben und noch am Leben zu sein, und trotzdem war Lale als Tätowierer ein Teil des menschenverachtenden KZ-Systems. War er nicht nur Opfer, sondern auch Mittäter? Die Angst, als solcher zu gelten, quälte ihn ein Leben lang.

Lale hat beigetragen, tausende Menschen zu Nummern zu machen, zumindest jene, die nicht nach vorangegangener Selektion gleich nach ihrer Ankunft in die Gaskammern befohlen wurden. Er hat ihnen Schmerzen bereitet und den wenigsten in die Augen geschaut. Und doch zeigte er mit kleinen und großen Gesten, Essen und netten Worten, vielen Mithäftlingen immer wieder viel Menschlichkeit unter unmenschlichen Bedingungen. Einige verdankten ihnen auch (Hoffnung auf) ihr Weiterleben. Lales Überlebenselixier war ein unbändiger Lebenswille und die Liebe zu Gita, der er die Häftlingsnummer 4562 tätowiert hatte.

Immer wieder erschreckt mich, dass Unmenschlichkeit mit dem Ende des Dritten Reiches nicht aufgehört hat. Hass und Gewalt überlebten in vielen Ländern und Systemen in ganz unterschiedlichen Ausprägungen. Andere zu unterdrücken und zu verletzen, ob mittels physischer oder psychischer Gewalt, scheint zum menschlichen Wesen zu gehören. Beim Lesen des Buches erinnerten mich die gewehrschwingenden Nationalsozialisten an den KZ-Lagerzäunen von gestern an die machtgeilen Narzisten in den Chefetagen von heute.

“Arbeit macht frei”?

Ein Kommentar:

  1. Ich fand das Buch auch sehr bewegend. Beim Lesen ist man für Stunden in einer Zeit und Welt unterwegs, die gar nicht soooo weit weg ist. Was Menschen in der Lage sind, anzurichten, ist erschreckend…. damals und heute. Aufpassen!

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