Mit ihrem 2019 erschienenen Buch „Was ich noch zu sagen hätte“ bewegten Tim Wache und Martina Grimm (Illustrationen) viele Leserinnen und Leser. Darin sind zwölf Sterbende am Ende ihrer Lebenswege porträtiert (Buchbesprechungen in der Jenaer Straßenzeitung NOTausgang, Jg. 25 (2019), Heft 1 und in diesem Blogbeitrag). Fünf Jahre später und pünktlich zum Welthospiztag am 12. Oktober 2024 veröffentlichten die beiden ihr zweites Hospizbuch: „Was ich unbedingt noch sagen möchte …“. Erhältlich ist es sowohl in den Jenaer Buchhandlungen als auch im Online-Shop des Verlages. Für jedes verkaufte Buch der ersten Auflage werden fünf Euro an das Jenaer Hospiz gespendet.
„Gespräche dieser Art sind unvorhersehbar, mitunter wahnsinnig intensiv und einmalig.“, beschreibt Tim Wache seine Besuche bei Sterbenden. Es berühre ihn jedes Mal aufs Neue, dass ihm seine Gegenüber Zeit für Gespräche einräumen, obwohl ihnen so wenig davon verbleibt, weil die Stunden auf ihrer letzten Lebensetappe gezählt sind.
Die Motivation, sich immer wieder selbst dem unbeliebten Thema zu stellen, erlangte er aus der Erkenntnis, dass sich viele Menschen vor dem Sterben fürchten würden, obwohl sich aus dieser einzigartigen Perspektive am Lebensende heraus viel lernen ließe. Wenn sich Tim in die ungewöhnlichen Gesprächssituationen in für ihn unvertraute Umgebungen begibt, verzichte er auf einen emotionalen Schutzanzug: „Ich möchte offen sein, berührbar sein, um letztlich auch Berührbarkeit und damit echten Kontakt und Verbindung überhaupt möglich machen zu können.“ Das Tragen solcher Schutzanzüge trotz des inneren Bedürfnisses nach Berührung beschreibt er als ein zentrales Problem unserer Gesellschaft. Ein Problem, das auch dazu führe, Sterbende zu meiden und dem Thema Tod aus dem Weg zu gehen.
Sich in solch ungewöhnliche Gesprächssituationen in unvertrauten Umgebungen zu begeben erfordert viel Mut. Wie der Besuch bei Sarah, die an einer angeborenen Herzerkrankung leidet. Operationen brachten keine Erfolge, erhöhten nicht mal ihre Heilungschancen. Sarah wird sterben. Sie ist gerade einmal sieben Jahre alt. Wie gehen ihre Eltern damit um? Mutter Lisa beschreibt eine neue Priorität: „Ihrem Leben mehr Tage zu geben, ist nicht mehr möglich. Nun versuchen wir ihren Tagen mehr Leben zu schenken.“ Jeden Tag pflanzt Sarah mit ihrer Mutter Bäume: „Und wenn ich fortmuss, werden meine Bäume bleiben und weiterwachsen, bis sie in den Himmel reichen.“
Es wundert nicht, dass Tim viel Zeit benötige, solche Gespräche auf Papier zu bringen. Die Intensität der Begegnungen sei hoch: „Ich trage ihre unsichtbaren Stempel auf meiner Stirn.“ Sie hätten ihn geprägt, seine Perspektive verändert, ließen sich nicht abhaken. Diese Nahbarkeit merkt man jedem Porträt an. Sie ist sicher einer der guten Gründe, warum sich Leserinnen und Leser des ersten Hospizbuches bei Tim meldeten und ihn zu sich einluden. Menschen, die mit ihm über ihr Leben reden wollten und darüber, was sie vor dem Hintergrund ihres nahenden Todes gelernt hatten. Tim habe sich aus Interesse, Freundlichkeit und einer „merkwürdigen Form des sich verbunden Fühlens“ darauf eingelassen, ohne zu ahnen, dass daraus ein zweites Hospizbuch entstehen könnte. Dieser Plan habe erst mit dem Tod seiner treuen Hündin Ella Konturen angenommen.
In diesem zweiten Band, der von Martina Grimm wieder gekonnt illustriert wurde, kommt auch Dorothea zu Wort. Die 71jährige lebt mit ihrem Helfer Herrn Sidka zusammen, der sich um alles kümmert, was sie selbst nicht mehr bewerkstelligen kann. Sie bewohnen ein eher düster, fast gruslig wirkendes Haus, in dem Dorotheas Familie schon seit dem 18. Jahrhundert ansässig ist. Diese Umgebung passt nicht zu der kreativen und handgemachten Karte, mit der sie Tim zu sich einlud. Und auch nicht zu der Frau, die ihn, in dunkelblauem Kimono und großem Damenhut gekleidet, auf einer Couch liegend empfing.
Ihr ganzes Leben lang versuchte sie, ihrer Mutter zu gefallen. Im Finanzwesen habe sie gearbeitet, keinen Mann gefunden, der den Ansprüchen ihrer Mutter entsprochen hätte. Den Bastelraum habe sie sich erst einrichten können, als es ihre Mutter nicht mehr gab. Mit Dorotheas Diagnose – Bauspeichendrüsenkrebs – sei ihr alles fremd geworden. Das Haus, ihre Kleidung, ihr Spiegelbild. Nach einer Panikattacke begann sie, Fragen nachzugehen und Dinge auszuprobieren. Zeitlebens hatte sie Angst vor dem Wasser, denn sie konnte nicht schwimmen. Die ängstliche Mutter erlaubte ihr den Schwimmunterricht nicht und so übertrug sich deren Furcht auch auf die Tochter. Zusammen mit Herrn Sidka fuhr Dorothea ans Meer. Auf ihrer letzten Lebensetappe machte sie diese beeindruckende Erfahrung doch noch und verspürte eine „unerhörte Lebendigkeit“. „Mir scheint, es [das Leben] lohnt sich für die Momente, in denen die Fragen leise gedreht werden und das Leben laut.“
Jedes einzelne der Gespräche, die Tim Wache führte und einfühlsam niederschrieb, ist bemerkenswert und lädt ein, das Gelesene zu rekapitulieren. Selten gelang es mir, mehr als ein Porträt am Stück zu lesen. Zu sehr beschäftigten mich die Lebensgeschichten der Sterbenden und ihre Schlussfolgerungen. Allesamt riefen mir in Erinnerung, wie schwer Abschiede wiegen. Aber vor allem thematisieren sie das Leben. Die Begegnungen haben auch etwas mit Tim gemacht: „Ich habe gelernt, wie ich sterben möchte. Und, daraus folgend auch, wie ich leben sollte. Mein Leben und Alltag sind emotional intensiver und dankbarer geworden.“
Wir sind es gewohnt, mit Menschen zu reden, die noch Pläne schmieden und ihr Leben vor sich haben. Wenig beschäftigen wir uns mit jenen, die keine Zukunft mehr haben. Vielleicht, weil es uns Angst macht, der eigenen Endlichkeit ins Auge zu sehen. Vielleicht aber auch, weil uns die Gelegenheiten dazu fehlen. Die Auseinandersetzung mit dem unbeliebten Thema des endgültigen Abschiedes könnte aber schon damit beginnen, zu diesem Buch zu greifen.
Wache, Tim: Was ich unbedingt noch sagen möchte… : d. zweite Hospizbuch. – [Neuengönna] : Meilensteine, 2024.